Schweizerische Interessengemeinschaft für das Post-Polio-Syndrom SIPS Zentralsekretariat ASPr-SVG | Polio.ch Route du Grand-Pré 3, 1700 Freiburg T 026 322 94 33 – F 026 323 27 00 [email protected] – www.polio.ch Post-Polio-Syndrom und Beweisbarkeit Die Medizin neigt in wachsendem Masse zur anatomisch strukturellen oder paraklinisch funktionellen sowie befundorientierten Beweisforderung für pathologisch symptomatische Störungen. Dabei vernachlässigt sie allzu häufig die Nachweisgrenzen ihrer Untersuchungsmethoden, wobei die meisten Polio-bedingten neurologischen Schäden sich dem objektivierenden Nachweis weitestgehend entziehen. Ausserdem sind infolge Kenntnismangel zur vorliegenden Polio-Spätfolge-­ Erkrankung Untersuchungsansätze gelegentlich auch inadäquat und zeitigen so ein physiologisches Ergebnis. Aus der Feststellung «ohne Befund» beziehungsweise «unauffällig» wird dann schnell «nicht krank» oder «psychisch bedingt». Die therapeutischen Konsequenzen sind für den Patienten nicht selten mehr oder weniger kata­ strophal. Eine neurologische Erkrankung wird ent­gegen der WHO-Klassifizierung (ICD 10, G 14 Post-Polio-Syndrom) psychiatrisiert. Die Folge sind extreme Fehlbehandlungen. Ganz besonders davon betroffen sind die so genannten Ausschlussdiagnosen. Dazu gehört unter anderen auch das Post-Polio-Syndrom, eine vielgestaltige Polio-­ Spätfolge von einfacher bis zur komplexen Ausprägung. Erschwerend kommt das verbreitete Missverständnis bezüglich der Definition von «Ausschlussdiagnose» hinzu, welches die ausschliessliche Anerkennung der Diagnose unter der Voraussetzung fordert, dass zunächst andere Ursachen für die jeweiligen Krankheitserscheinungen im Sinne eines ENTWEDER-ODER ausgeschlossen sind und eine Parallelität nicht akzeptiert wird. Richtig jedoch ist: Eine Ausschlussdiagnose, wie beispielsweise das Post-Polio-Syndrom, ist nicht ausschliessbar, weil sie als solche in der Regel ursächlich weder bewiesen noch ausgeschlossen werden kann. Ihr Status dient lediglich dem Zweck, andere behandlungspflichtige mögliche Krankheiten einer Behandlung zuzuführen, das heisst, deren Behandlung nicht zu versäumen. Sie ist in jedem Falle sowohl einzeln als auch parallel zu führen, um auch hier therapeutische KonseFaire Face 2/2016 quenzen nicht ausser Acht zu lassen. Ihre Symptome sind zwar nicht als b ­ eweisende, sondern bei entsprechender Charakteristik ohne Voraussetzungsauflage, als hinweisende zu betrachten. «Niemandem würde Das Post-Polio-Syndrom kann eine Vielzahl von Symptomen einzeln oder auch kombiniert aufweisen, deren pathogenetische Grundlage virologisch, pathologisch-anatomisch, immunologisch und mole­kularbiologisch belegt ist. Mit allen funktionellen Abhängigkeiten dürfte die Zahl der Symptome bei über einhundert liegen. Diese Grössenordnung gründet sich in der final-pathogenetischen Manifestation der Polio-Infektion im ZentralNerven-­System, das heisst in Gehirn, Rückenmark und Spinalganglien, wobei das Gehirn immer und das Rückenmark meistens betroffen sind. (­ BODIAN in BRUNO) Diese Manifestation ist mit einem regellosen Neuronenverlust verbunden, wovon bis zu 50% in einem Funktionsbereich im Rahmen der Neuroplastizität strukturell wie funktionell kompensiert werden können. Verglichen mit dem Rückenmark ist das Gehirn mit einer sehr viel grösseren Kompensationsfähigkeit ausgestattet. Andererseits ist die anatomische Lokalisation von Polio-bedingten Schäden, seien sie nun klinisch relevant oder auch nur subklinisch, aufgrund der hohen strukturellen und funktionellen Gesamtvernetzung des Zentralnervensystems überwiegend nicht möglich. dem Blutbild und es einfallen, eine Diagnose wie die der Schizophrenie aus einem Röntgenbild zu stellen, aber für eine Diagnose Post-Polio-Syndrom werden immer wieder paraklinische Beweise gefordert.» Dr. med. Peter Brauer Funktionssignale bewegen sich neben dem wechselseitigen Austausch zwischen gesunden Bereichen auch von gesunden zu schadhaften Arealen und umgekehrt mit der möglichen Folge von krank­ heitswertig verarbeiteten Übermittlungen. Also arbeiten auch fehlgesteuerte gesunde Einheiten nicht in jedem Fall in gewohnter Weise. Das trifft nun nicht nur auf die Interaktionen innerhalb des Zentralnervensystems zu, sondern auch auf die davon abhängigen Organe des gesamten Organismus. Sollten Symptome auf eine unphysiologische Arbeitsweise von Organen hinweisen, könnte das an einer direkten krankhaften Veränderung im O ­ rgan selbst, in korrespondierenden Organen oder einer zentralen Fehlsteuerung liegen. Im letzteren Fall bliebe die paraklinische Organuntersuchung ohne auffälligen Befund. Dieser Zustand wird beim Post-Polio-Syndrom sehr häufig registriert. Und doch ist der Patient krank, inkurabel chronisch krank! In etwa 92% der Fälle verläuft die Infektion mit dem Polio-Virus inapparent, das heisst, ohne jegliche Krankheitszeichen, jedoch mit subklinischen und hinsichtlich der Spätfolgen krankheitswer­ tigen Infektionsschäden – für den davon betrof­ fenen «Patienten» völlig unbewusst. Die inappa­ rente Infektion entspricht demnach von ihrer Charakteristik her einer akuten Erkrankung. (NICOLLE in GÄDEKE) Aus Abhandlungen über die inapparente Infektion ist die für sie äusserst eingeschränkte naturwissenschaftliche Beweismöglichkeit bekannt. (GÄDEKE) Das Post-Polio-Syndrom erschliesst sich in erster Linie aus der Anamnese in der Entwicklung und dem Charakter der aktuell vorliegenden ­Beschwerden, gestützt durch klinische wie para­ klinische Zufallsbefunde. Sie müssen keineswegs für die zurückliegende Infektion typisch, jedoch eine späte Folge derselben sein. Nach ROSÉE bereiten die Symptomzuordnung und die Differenzialdiagnostik dabei die grössten Probleme. Das betrifft das Post-Polio-Syndrom als Spätfolge aller Verlaufsformen einer Polio-Encephalo-Myelitis-Infek­ tion. Weiterführende Literatur Brauer, P.: Checkliste Post-Polio-Syndrom? In: Brauer, P.: Aspekte des Post-Polio-Syndroms. Polio Selbsthilfe e.V. 2. Auflage 2011, S. 105– 109. • Brauer, P.: Inapparente Polio-Encephalo-Myelitis und Post-Polio-Syndrom. Polio Europa aktuell 16. Jahrgang 2015, Nr. 64, S. 3–4. • Bruno, R.L.: The Polio Paradox. Warner Books New York/Boston 2003. • Gädeke, R.: Die inapparente Virusinfektion und ihre Bedeutung für die Klinik. Springer-Verlag Berlin/Göttingen/Heidelberg 1957. • Halstead, L.S. and J. Silver: Nonparalytic Polio and Postpolio Syndrome. American Journal of Physical Medicine & Rehabilitation 2000, Vol.79, Issue 1, P. 13–18. • Rosée, R. de la: Plädoyer für eine andere Sichtweise der Entstehungsgenese von «CFS»/«CFIDS». Indizien für eine Tardivpandemie • Internet: Immunselbsthilfe • Im Stile einer Kochbuchmedizin mehr oder weniger willkürlich aufgestellte schematisierende Diagnosekriterien in Form einer Checkliste sind da wenig hilfreich, weil sie der symptomatisch und lokal kausal möglichen Vielfalt des Post-Polio-Syndroms nicht gerecht werden. Ja, sie sind mit ihrem Charakter eines Beweisanspruches geradezu fehl am Platze. Zudem werden die inapparenten wie abortiven und aparalytischen Polio-Infektionsverläufe dabei ohnehin nicht berücksichtigt. Der Beweisanspruch wird sogar verbreitet aufrechterhalten, obwohl seine Unsinnigkeit pathophysiologisch belegt ist. Fazit: Bei schon nur einem hinweisenden Symptom ist die Verdachtsdiagnose Post-Polio-Syndrom im Sinne einer Post-Viral-Erkrankung unabhängig von parallel möglichen Erkrankungen gleicher Symptomatik gegeben und als solche zu führen. Eine zu häufige Stellung dieser Diagnose ist wegen der diffizilen spezifisch therapeutischen Konsequenzen bei derartigen Post-Viral-Erkrankungen im Gegensatz zu einer Fehldiagnose mit desaströsen Fehlbehandlungen nicht zu befürchten. Eher wird diese Spätfolge zu selten diagnostiziert und damit Fehlbehandlungen Vorschub geleistet. Dr. med. Peter Brauer Faire Face 2/2016 Communauté suisse d’Intérêts du Syndrome Post-Polio CISP Secrétariat central ASPr-SVG | Polio.ch Route du Grand-Pré 3, 1700 Fribourg T 026 322 94 33 – F 026 323 27 00 [email protected] – www.polio.ch Le syndrome post-polio est-il démontrable? A l’heure actuelle, on exige toujours plus souvent que les diagnostics s’appuient sur des preuves tangibles anatomiques, structurelles, fonctionnelles, ou sur des examens complémentaires. Ce faisant, on passe outre le fait que les méthodes employées ont une limite : en effet, il n’est pas rare que des troubles neurologiques occasionnés par la polio ne puissent pas être détectés par une méthode ­objective. En outre, du fait du manque de connaissances au sujet des suites tardives de la polio­ myélite, on exige parfois des tests complémentaires inadéquats, avec au final des résultats normaux. Ainsi, on passe rapidement de « résultats négatifs» ou «normaux» à «en bonne santé» ou «d’origine psychique», ce qui, pour les patients, a des conséquences thérapeutiques souvent désastreuses. Une affection neurologique se convertit alors en maladie psychiatrique, et cela à l’encontre de la classification de l’OMS (CIM 10, G 14: syndrome post-poliomyélite), source de gravissimes erreurs de traitement. Or, les maladies qui ont le plus tendances à être « psychiatrisées» sont les fameux «diagnostics d’exclusion», dont fait partie, entre autres, le syndrome post-polio, terme qui ­englobe une constellation de suites tardives de la poliomyélite, de la plus bénigne à la plus complexe. En outre, la définition de «diagnostic d’exclusion» est souvent mal comprise : on pense qu’il est nécessaire d’exclure au préalable, telle une liste à biffer, toutes les autres causes pouvant expliquer les symptômes du patient, alors qu’il est tout à fait possible que deux affections coexistent en parallèle. chaque affection seront menés en parallèle, cela afin de ne pas perdre de vue les conséquences de chacun d’entre eux. En effet, les symptômes ne démontrent pas l’existence d’une maladie, mais constituent des indices de celle-ci en présence de certaines caractéristiques de base, qu’il faut aborder sans idées préconçues. Ce qu’il faut comprendre: «Exclure un diagnostic d’exclusion» tel que le syndrome post-polio est un non-sens: par essence, les diagnostics d’exclusion n’ont pas de cause prouvée, donc pas de cause à exclure. Le statut de diagnostic d’exclusion sert uniquement à assurer que d’autres maladies pouvant être traitées soient prises en considération et soignées. Les traitements spécifiques à Dans le système nerveux, il peut se produire un échange de signaux entre deux aires saines, mais aussi entre une aire saine et une aire touchée par la polio, avec pour conséquence une déformation de l’information transmise. Les aires saines, par ailleurs, cessent de fonctionner parfaitement si elles reçoivent des signaux erronés. Et cela ne vaut pas uniquement pour les interactions à l’intérieur Faire Face 2/2016 Le syndrome post-polio peut se présenter sous de multiples formes: il peut apparaître une plainte isolée ou un groupe de symptômes survenant simultanément. La pathogénèse de cette affection a été démontrée du point de vue virologique, anatomo-pathologique, immunologique et moléculaire. Le nombre de symptômes décrits, ainsi que leurs conséquences fonctionnelles, serait supérieur à la centaine. Cet ordre de grandeur se justifie par le fait que l’infection par poliovirus touche le système nerveux central, c’est-à-dire le cerveau, la moelle épinière et les ganglions rachidiens. Le cerveau est systématiquement touché, et la moelle épinière dans la plupart des cas. (BODIAN in BRUNO) Cela implique une perte aléatoire de neurones, qui peut être compensée jusqu’à 50% du point de vue structurel et fonctionnel pour une zone cérébrale déterminée. En comparaison avec la moelle épinière, le cerveau possède une plasticité bien supérieure. La plupart du temps, il est impossible de déterminer la localisation précise des lésions – symptomatiques ou subcliniques – occasionnées par la polio, en raison de la densité des réseaux structurels et fonctionnels au sein du système nerveux central. Il ne viendrait à ­l’esprit de personne de diagnostiquer une schizophrénie sur la base d’une analyse de sang ou d’une radiographie. Mais pour le syndrome post-polio, on exige toujours que le ­diagnostic s’appuie sur des examens complémentaires. Dr méd. Peter Brauer du système nerveux central, mais également pour la fonction d’autres organes et de l’organisme tout entier. Si les symptômes font supposer un dysfonctionnement organique, cela peut être dû à une lésion de l’organe lui-même, à une dysfonction d’organes associés ou encore à une lésion centrale. Dans ce dernier cas, les examens complémentaires révéleront une fonction organique normale, ce qui est très souvent le cas chez les patients post-polio. Et pourtant, ce sont des malades chroniques et incurables! Dans environ 92% des cas, l’infection par poliovirus est indolente, c’est-à-dire qu’elle ne provoque pas de symptômes. Toutefois, l’infection provoque des séquelles subcliniques et cliniques à long terme dont le « patient » ne sera pas conscient au moment de l’infection. L’apparition de suites tardives rappellera donc davantage une affection aiguë que chronique. (NICOLLE in GÄDEKE) Les travaux effectués sur les infections indolentes soulignent tous la quasi impossibilité de les justifier sur le plan scientifique (GÄDEKE). De fait, le diagnostic du syndrome post-polio est principalement posé par le biais de l’anamnèse des plaintes actuelles et les caractéristiques de l’apparition des symptômes, ainsi que sur les découvertes fortuites lors de tests cliniques et paracliniques. Ces dernières ne sont pas forcément caractéristiques de l’infection aiguë; au contraire, elles en constituent une séquelle tardive. Selon ROSÉE, ce sont l’attribution des symptômes et le diagnostic différentiel qui posent le plus de problèmes dans le cas du syndrome post-polio, qui regroupe toutes les formes de suites tardives de la polioencéphalomyélite. Pour en savoir plus: Brauer, P.: Checkliste Post-Polio-Syndrom? In: Brauer, P.: Aspekte des Post-Polio-Syndroms. Polio Selbsthilfe e. V. 2. Auflage 2011, p. 105–109. • Brauer, P.: Inapparente Polio-Encephalo-Myelitis und Post-Polio-Syndrom. Polio Europa aktuell 16. Jahrgang 2015, Nr. 64, p. 3–4. • Bruno, R.L.: The Polio Paradox. Warner Books New York/Boston 2003. • Gädeke, R.: Die inapparente Virusinfektion und ihre ­Bedeutung für die Klinik. Springer-Verlag Berlin/Göttingen/ Heidelberg 1957. • Halstead, L.S. and J. Silver: Nonparalytic Polio and Postpolio Syndrome. American Journal of Physical Medicine & ­Rehabilitation 2000, Vol.79, Issue 1, p. 13–18. • Rosée, R. de la: Plädoyer für eine andere Sichtweise der Entstehungsgenese von «CFS»/«CFIDS». ­Indizien für eine Tardivpandemie. • Internet: Immunselbsthilfe • Les critères diagnostiques du syndrome post-polio, établis sous forme d’une liste de symptômes comme s’il s’agissait d’une recette de cuisine, ne sont pas très utiles. En effet, ils ne prennent pas en considération la diversité symptomatique et causale de cette maladie et ne tiennent pas compte des formes silencieuses et aparalytiques de l’infection à poliovirus. L’exigence de preuves tangibles, bien qu’elle ne soit en aucun cas applicable au syndrome post-polio et représente un non-sens du point de vue physiopathologique, est considérée comme une norme généralement applicable et devant être respectée à tout prix. En bref: même en présence d’un symptôme isolé et indépendamment d’autres maladies à la symptomatologie similaire, il doit exister un soupçon de syndrome post-polio en tant que suite tardive d’une infection virale qu’il est nécessaire de prendre en charge en tant que tel. Il ne faut pas craindre un surdiagnostic de cette maladie en raison de sa difficile solution thérapeutique; il serait bien plus néfaste de poser un diagnostic erroné, avec des conséquences désastreuses du point de vue du traitement. Les suites tardives de la polio sont diagnostiquées trop rarement et sont en conséquence traitées de manière inadéquate. Dr méd. Peter Brauer Faire Face 2/2016