Pierre Bayle - Vordenker des modernen Toleranzbegriffs
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Die grausame Verfolgung der Hugenotten nach der Aufhe-
bung des Edikts von Nantes 1685 und der gewaltsame Tod sei-
nes Bruders jedoch hätten Bayle zu einem der damals zahlrei-
chen Befürworter der Toleranz gegenüber der eigenen Religions-
gemeinschaft und der Intoleranz gegenüber den Andersglau-
benden machen können. Es ist bemerkenswert, dass er trotz
dieser traumatischen Erfahrungen für eine grenzenlose religiöse
Gewissensfreiheit Stellung nahm. Die Kompromisslosigkeit
seines Plädoyers für die aktive Anerkennung des anderen und
sein Sinn für die „Multiperspektivität“ machen ihn zu einem der
größten Vordenker des modernen positiven Toleranzbegriffs,
der sich erst ab dem 18. Jahrhundert allmählich in einer breiteren
Öffentlichkeit durchsetzen wird.4 Die Modernität seines Den-
taigne, Naudé oder Malbranche auf Bayle keinesfalls bestreitet, hebt sie als
entscheidende Einwirkungsfaktoren auf sein Werk das kalvinistische Milieu, in
dem der französische christliche Philosoph aufgewachsen ist, sowie seine theo-
logische Ausbildung hervor. Zum heutigen Forschungsstand siehe: Geissler, R.:
Tendenzen und Probleme der neueren Forschung zu P. Bayle, in: Beiträge zur
romanischen Philologie, Berlin 1968, S. 229-251. Zur Einführung in das Werk Pierre
Bayles sind neben den Werken von Élisabeth Labrousse folgende Arbeiten be-
sonders empfehlenswert: Delvolvé, Jean: Religion, critique et philosophie positive chez
Pierre Bayle, Paris 1906; Groethuysen, Bernard: „Bayle“, in: Ders.: Mythes et
Portraits, Paris 1947; Dibon, Paul (Hrsg.): Pierre Bayle. Le philosophe de Rotterdam,
Amsterdam/ Paris 1959; Whelan, Ruth: The Anatomy of Superstition. A Study of the
Historical Theory and Practice of Pierre Bayle, Oxford 1989; Bost, Hubert: Pierre Bayle
et la religion, Paris 1994; Bost, Hubert/de Robert, Philippe (Hrsg.): Pierre Bayle,
Citoyen du Monde. De l'enfant du Carla à l'auteur du Dictionnaire. Actes du colloque du
Carla-Bayle (13-15 septembre 1996), Paris 1999.
4 Commentaire philosophique sur ces paroles de Jesus Christ, Contrains-les d’entrer, où
l’on prouve par plusieurs raisons démonstratives, qu’il n’y a rien de plus abominable, que de
faire des conversions par la contrainte, & où l’on réfute tous les sophismes des convertisseurs à
contrainte, & l’Apologie que St. Augustin a faite des persécutions. Den Commentaire
philosophique (Com. Phil., dt.: Philosophische Auslegung) findet man im Bd. 2 der
Oeuvres diverses (OD). Das Werk wurde unter dem Pseudonym „Sieur Jean Fox de
Bruggs“ veröffentlicht. Dieses Pseudonym setzt sich zusammen aus den Namen
des Quakers George Fox, selbst ein Verfechter der Toleranzidee, und des Grün-
ders einer anabaptistischen Religionsgemeinschaft in den Niederlanden, David
Joris - Joris bedeutet auf holländisch der „Sohn Georges“ -, der unter dem fal-
schen Namen Johannes von Brüggen 1544 in Basel Zuflucht fand. Die Schrift